Moskau ist für die Russen weitaus stärker der Brennpunkt des Landes als Paris für die Franzosen. Moskau ist wohl auch der größte »Kapitalist« des Landes:
Der Stadt gehören fast alle Hotels, Taxiunternehmen, Theater, die Konsumgüterindustrie, die Bauindustrie und die U-Bahn mit ihren prunkvollen Bahnhöfen. Kein Wunder, dass an der Spitze der Stadtverwaltung Manager von »Spitzenformat« stehen und dass man von dort aus zu den höchsten Ämtern im Staat aufsteigen kann – wie seinerzeit aus dem Bürgermeister Bulganin der Ministerpräsident wurde. Übrigens gab es Pläne und Sollerfüllung auch in den politischen Amtsstellen: Wie viele Reden ein Funktionär zu halten hatte, bestimmten sie.
Die Moskauer haben dem breiten Kalinin-Prospekt den Beinamen »Brodwej« gegeben. Immer mehr Reklame westlicher Konzerne verunstaltet das Straßenbild. Für die Jugend werden amerikanische Fast-Food-Ketten zum kulinarischen Maßstab, und in den Diskotheken hat amerikanischer Hip Hop und Techno-Sound den für uns unbeholfen klingenden russischen Schlagerstil abgelöst. Westliche Luxusautos fraglicher Herkunft machen sich auf den Straßen breit – doch besonders alten Leuten geht es heute materiell schlechter als je zuvor.
Selbst im Abreißen alter Bauten zur Verbreiterung der Straßen und zur Errichtung größerer und modernerer Häuser ist man manchmal so rasch bei der Hand wie in den USA. Dies aber ist in dem traditionsreichen Russland gefährlicher -schon viele unersetzliche alte Baudenkmäler gingen so verloren, bevor man sich stärker dieser alten Werte besann. Während der Stalin-Ära bestanden Pläne, die Sankt-Basilius-Kathedrale auf dem Roten Platz abzureißen! Der Restaurator Pjotr Baranowskij drohte damals mit Selbstmord, wenn dieser Plan verwirklicht würde.
Heute hat die Gesellschaft zur Erhaltung historischer Denkmäler in Moskau Hunderttausende von Mitgliedern, und so wird wohl auch das Dorf Kolomenskoje aus dem 16. Jahrhundert erhalten bleiben, aus dem der erwähnte Baranowskij schon 1923 ein Freilichtmuseum für alle Republiken der UdSSR »vom Polarkreis bis zum Kaukasus und von Weißrussland bis Sibirien« machen wollte. Vorerst sieht man dort außer den Häusern des Dorfes selbst das Holzhaus von Peter I. aus Archangelsk, eine Toranlage von einem Kloster in Karelien, einen Wachturm aus der Region von Irkutsk und eine alte Brauerei.
Leo Gruliow hat auch das russische Jahr mit seinen vielen Festen liebevoll beobachtet und geschildert. Die Wurzeln auch von Parteifesten reichen zuweilen tief in die Vergangenheit zurück: Die Feiern des l. Mai beruhen auf der Tradition eines alten slawischen Frühlingsfestes, gefeiert zu Ehren des Sonnengottes Ja rilo… –> Reisebericht Russland
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